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Auch der Begriff Absurdistan hätte es getroffen

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Geschichtlicher Rückblick von Prof. Dr. Jörg Becker auf das Kriegsende in Remscheid und die Zeit unter US-amerikanischer Besatzung vom 15. April bis zum 23. Mai 1945

Teil 4: Chaos und Gesetzlosigkeit

Vorabdruck aus dem Buch "Remscheid 1945", das Ende
des Jahres von Jörg Becker und Armin Breidenbach
herausgegeben werden wird.

Man bedenke: Besatzungstruppen sind Besatzungstruppen und keine Verwaltungseinheiten und erst recht keine Sozialarbeiter oder Entwicklungshelfer, die in Lagern lebenden Menschen oder Obdachlosen adäquate Hilfe geben können. Solche Fachkräfte kamen erst später nach Remscheid, nämlich unter der britischen Militärregierung ab dem 24. Mai 1945. Das ist der entscheidende Grund auf US-amerikanischer Seite, dass in dieser Zeit Chaos und Gesetzlosigkeit herrschen mussten. Auf deutscher Seite verstärkten die folgenden Gründe diesen chaotischen Zustand: Armut, Hunger, verstreuter Waffenbesitz, ungeklärte Besitzverhältnisse, auseinander gerissene Familien, Vergewaltigungen von Frauen [1], abwesende Väter, Trauer, Wut, Depressionen, Demütigungen, Verrat, Bestechungen und Denunziationen. Viele Menschen hatten keinerlei festen Wohnsitz, denn es gab unzählig viele sogenannte Displaced Persons (DP), also freigelassene Straf- und Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und ehemalige KZ-Häftlinge. In ganz Deutschland gab es bei Kriegsende 6 Mio. ausländische Zwangsarbeiter, 2 Mio. Kriegsgefangene und rund 750.00 ausländische KZ-Häftlinge.

Sieht man sich für Remscheid die Titel einige Untergruppen der Dokumente „D 100 Besatzungsamt“ aus dem Stadtarchiv an, dann werfen sie ein bezeichnendes Licht auf dieses Chaos. Diese Untergruppen tragen folgende Titel: Verwendung von Dienstsiegeln mit Hakenkreuz, Suspendierung von Beamten, Zuteilung von Seifen und Waschmitteln an Arbeiter des Besatzungsamtes, Entlassung antifaschistischer Kriegsgefangener, Umsiedlungstransporte, Rückführung evakuierter Mütter und Kinder, Gepäckrückführung aus der russischen Zone, beschlagnahmte Gegenstände und Gebäude, Requisition von Fahrrädern, Beschlagnahme von Teppichen und Sofas für die Militärregierung, Requisitionen von Möbeln, Werkzeugen, Lebensmitteln, Maschinen und Holz und Bevorschussung von Bauaufträgen, Kleidersammlung, Sicherstellung und Verteilung von Nähmaschinen vor allem aus dem Besitz der ehemaligen NS-Frauenschaft, Antrag auf Zulassung des Akkordeonvereins „Bergische Klänge“, Wiederinbetriebnahme von Fernsprechanschlüssen oder Eingaben des Polizeibeirates an die Militärregierung. Diese Aktenübersicht aus dem Stadtarchiv Remscheid kann gut ergänzt werden um die Stichworte in einem Findbuch des Landesarchivs Duisburg für die Polizei im Bergischen Land für 1945: Anzeigen wegen Überschreitung der Sperrzeiten, Dienstanweisung der Militärregierung zum Fotografieren und der Abnahme von Fingerabdrücken bei Gefangenen, Schwarzmarktbekämpfung, Ermittlungen wegen gefälschter Ausweise, Durchführung von Kontrollen im Italiener-Lager Honsberg, Übertragung von Exekutiv-Vollmachten zur Bekämpfung des Schwarzmarktes an den Kontrollausschuss der Gewerkschaften. [2]

Die umfangreichen Dokumente über Requisitionen, Demontagen und Entschädigungen [3] zeigen klar – und das kann kaum anders sein –, dass Requisitionen durch das US-amerikanische Militär zu Anfang noch nicht bürokratisch geregelt waren und dass es bei der Requirierung von Häusern und Autos auch zu Willkür, Ungesetzlichkeit, Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten kam und kommen musste. Klar ist auch, dass es seitens der Remscheider Stadtverwaltung nur ungeordnete Haushaltspläne geben konnte. Doch: Worin lag zum Beispiel der Sinn, Menschen in ihren Lagern die Musikinstrumente abzunehmen? [4]

Chaos ist ein Begriff, mit dem sich die Situation im April/Mai 1945 gut charakterisieren lässt. Aus einer heutigen Wohlstands- und Freiheitsperspektive kann man aber für diesen Zeitraum auch den Begriff Absurdistan benutzen. Denn für diesen Zeitraum begegnet man auch folgenden Vorfällen, weswegen sich Remscheider Bürger und Bürgerinnen in langen Schreiben an das Besatzungsamt gewandt hatten.
Am 17. April 1945 stellte ein selbsternannter Volksmissionar für sich und seine Frau beim Besatzungsamt einen Reiseantrag in die amerikanische Besatzungszone, um dort ein Seminar besuchen zu können. [5] Außerordentlich heftig im Ton war eine Beschwerde nur wenige Tage später, nämlich am 24. April. Es beschwerte sich die Evangelische Kirchengemeinde aus Remscheid-Lüttringhausen bei Ortsbürgermeister Kattwinkel über den Einbruch voll betrunkener G.I.s in das Pfarrhaus des Superintendenten Bellwied am Wiedenhof 1 in der Nacht vom 18. auf den 19. April und die Tatsache, dass sie das Pfarrhaus angezündet hatten: „Inzwischen waren die Soldaten durch die zerschlagenen Fenster in das Haus eingestiegen. Die Frauen waren entsetzt, notdürftig bekleidet, durch den Keller in die nassen Wiesen geflüchtet.“ [6]

 
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