Am 18. April 1946 fand eine Sitzung der von der Militärregierung ernannten Stadtvertreter statt. In dieser Sitzung wurde der letzte Oberbürgermeister alten Stils, Georg zur Hellen, der 27 Jahre für Remscheid gearbeitet hatte, vom Stadtkommandanten Major Barker verabschiedet. An seine Stelle trat der bisherige Stadtrat in Krefeld, Arthur Mebus, der in Remscheid als Oberstadtdirektor Hauptgemeindebeamter wurde. In ihm wird zum ersten Male das parlamentarische System der Gewaltenteilung sichtbar. Fortan wird es eine beschließende Instanz, ein Stadtverordnetenkollegium mit dem politischen Oberbürgermeister an der Spitze, und eine ausführende Instanz, eine unpolitische Verwaltung mit dem Oberstadtdirektor an der Spitze geben.
Diese quasi britische Errungenschaft bewährte sich, nicht aber das Mehrheitswahlrecht, das bei der ersten Kommunalwahl angewendet wurde. Am 22. Mai hatte Gustav Flohr, ein Kommunist, das Amt des Oberbürgermeister übernommen. In seiner Antrittsrede sagte er: »Ich fühle mich eins mit den Potsdamer Beschlüssen, Deutschland als eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Einheit zu sehen. Angesichts der großen Zerstörung bin ich mir der Schwere der Aufgabe bewußt.«
Flohr sollte nicht lange Zeit haben, seine Vorstellungen im neuen Amt zu verwirklichen. Am 13. Oktober 1946 wurde zum ersten Mal in freien Wahlen eine Stadtvertretung ermittelt. Das Ergebnis: SPD 41378 Stimmen, CDU 39519 Stimmen, KPD 32230 Stimmen, FDP 30158 Stimmen, Deutsche Zentrumspartei 4893 Stimmen. Obwohl vier Parteien vergleichbar große Stimmanteile errungen hatten, differierte die Sitzverteilung gewaltig. Die CDU wurde mit 17 Sitzen stärkste Ratsfraktion, ihr folgte die FDP mit zwölf Sitzen. Die SPD errang nur vier, die KPD nur drei Sitze. Das Ergebnis wurde durch die Anwendung des Verhältniswahlrechts im Jahre 1948 korrigiert. Vorerst aber hatte Remscheid mit diesem Stadtrat zu leben, und Dr. August Scholz (CDU), der von seiner Partei schon einmal vergeblich gebeten worden war, das Amt des Oberbürgermeistern zu übernehmen, versagte sich nun nicht länger. Seine erste Rede machte klar, was die Zeit forderte: »Die Verwaltung hat im Einvernehmen mit der Militärregierung dafür Sorge zu tragen, dass genügende Mengen an Kartoffeln, Getreide, Gemüse für die nächsten acht Tage zur Verfügung stehen. Es werden alle Anstrengungen gemacht, auch darüber hinaus die Ernährung sicherzustellen, Nährmittel sind zur Zeit nicht verfügbar.«
In Remscheid wurden Aktionen in die Wege geleitet, die weit über die Grenzen der Stadt hinaus Aufsehen erregten. Dabei zeigten die Verantwortlichen nicht nur Phantasie und List, sondern auch die Fähigkeit, die Bevölkerung zu echten Gemeinschaftsleistungen zu beflügeln.
Ein besonderes Beispiel dafür war die Aktion »Remscheid hilft sich selbst« in den Wintern 1946/47 und 1947/48. Man muss sich die Situation klarmachen. Remscheid erhielt für seine 100000 Einwohner im Jahre 1947 an behördlichen Zuteilungen 63 Herrenanzüge, 53 Damenunterkleider, 120 Betten, einen Küchenschrank, vier Kleiderschränke. Angesichts einer so trostlosen Versorgungslage wurde in Remscheid noch einmal der Begriff der Schicksalsgemeinschaft beschworen, eine Haussammlung veranstaltet, zu der alle Organisationen ihr Bestes taten, um eine Basis des Vertrauens zu schaffen. Wochenlang wurde die allgemeine Aufmerksamkeit durch Plakate geweckt, auf denen Szenen des Elends zu sehen wäre, begleitet von der Frage: »Vergessen?« Die schließlich gegebene Antwort, ebenfalls auf Plakaten zu lesen, lautete: »Nein! Wir wollen helfen!« Und das taten die Remscheider. Bei der 47er Aktion kamen 3213 Herrenbekleidungsstücke, 2730 Damenbekleidungsstücke, 5050 Kinder- und Babybekleidungsstücke, viel Bettwäsche, viele Schuhe und Möbel, darunter ein ganzes Schlafzimmer, zusammen. Außerdem wurden 389315 Mark gespendet. Mit diesen Spenden konnte in nahezu 18000 Fällen geholfen werden, eine stolze Leistung, etwas auch, an das man sich in so düsterer Zeit halten konnte, ein Zeichen fortbestehender oder neu gewachsener Menschlichkeit. Das Jahr 1947 ging zu Ende, ohne dass sich im Alltagsleben eine entscheidende Wende gezeigt hätte. Die beiden maßgeblichen Männer im Rathaus, Oberbürgermeister Dr. Scholz und Oberstadtdirektor Mebus, stellten in ihrem Weihnachtsaufruf fest: »Der wichtigste Teil unserer Wirtschaft, der Baumarkt, dem der Wiederaufbau unserer zerstörten Heimat zufällt, liegt noch vollkommen tot. Die schwierige Versorgungslage unseres Volkes ist durch den trockenen Sommer und seine magere Ernte weiter verschärft worden. Mangelerscheinungen kennzeichnen unser Leben, nirgendwo ist Fortschritt spürbar. Während wir auf den Kohlen sitzen, werden unsere schönen Wälder weiter im Raubbau abgeholzt. Möge das Jahr 1948 endlich auch die Befreiung der noch immer in Kriegsgefangenschaft schmachtenden Landsleute bringen.« (aus: Remscheid so wie es war 2, von Dr. Gerd Courts, erschienen im Droste Verlag, Düsseldorf, im Jahre 1978.)