VonDr. Wilhelm R. Schmidt
In meinen Unterlagen zum alten Lennep fand ich vor einigen Jahren eine Brotempfangsberechtigungskarte aus dem Jahre 1915, also aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie ist ausgestellt auf einen Landsturmmann namens Wollenweber, der seinerzeit seine Wohnung an der Mittelstraße, also der heutigen Rotdornallee in Lennep hatte. Der Name Wollenweber passt zwar gut zu Lennep, ich konnte jedoch keinen Namenträger in meinen historischen Verzeichnissen ausmachen, nur Wüllenweber. Vielleicht war der Mann ja auch nur kriegsbedingt und vorübergehend da, schließlich gab es zu der Zeit Lenneper Militäreinheiten, die z.B. in Dolhain-Limbourg in Belgien stationiert waren. Das Landsturmbataillon Lennep wurde 1914 am 21. Tag nach Kriegsbeginn gebildet, und die Mannschaften setzten sich aus den ältesten Jahrgängen der Landwehr und aus noch garnisonsdienstfähigen Mannschaften zusammen. Dolhain oder früher auch Daelheim ist eine Teilgemeinde von Limburg an der belgischen Weser (Vesdre), in deren Nähe auch die Gileppetalsperre liegt und die Stadt Verviers, die wegen ihrer Tuchgeschichte ebenfalls eine besondere Beziehung zur Lenneper Vergangenheit hat. Davon und vom heimischen Bezirkskommando an der Schwelmer Straße, das seine Gestellungsbefehle für den Landwehrbezirk Lennep seinerzeit im Cölner Hof bzw. im König vonPreußen aushändigte, gibt es auch noch so manches Bild. Da immer wieder gefragt wird, wo denn das genannte Bezirkskommando gelegen war, so dient der Hinweis, es lag ungefähr dort, wo sich unlängst Anwohner über Lärm- und Geruchsbelästigungen beschwerten, die von einem Bistro bzw. Gartencafé ausgegangen sein sollen. Die Gerüche Alt-Lenneps, etwa in der Zeit, als das Bezirkskommando noch seines Amtes waltete, dienen den Beschwerdeführern sicherlich nicht als Maßstab, und ich, der ich an der Ecke zur Schwelmer Straße als Vierzehnjähriger vorm Konfirmandenunterricht meine Dreierpackung Roth-Händle aus dem Automaten zog, ein wenig darunter die Tochter des dortigen Friseurs von zuhause abholte und später in der nahe gelegenen Wallstraße als zeitweiliger Oberschulpostler die Quellekataloge in die Häuser trug (wobei einem öfters ein Bittern verabreicht wurde), also, ich habe noch so manche Erinnerung an die Düfte der vergangenen Zeit.
Die Kreisstadt Lennep stellte also im Oktober 1915 dem Landsturmmann Wollenweber eine Brotempfangsberechtigung aus, gültig für eine Person. Mit dieser Berechtigung, gedruckt auf blauen Karton, konnten vom Berechtigten in der Zeit vom 17. Oktober bis 1. Dezember 1915 insgesamt 28 Pfund Brot oder Mehl bezogen werden. Der Wert der Karte war in der damaligen Hungerzeit gar nicht zu überschätzen, was auch der Grund dafür war, dass derartige Dokumente mit dem Dienstsiegel der Stadt Lennep gesichert waren. Die Brotempfangsberechtigungskarte ist in mehrere Felder oder Rubriken aufgeteilt. Da die Zuteilung bei voller Ausnutzung für acht Wochen reichen musste, war man nur berechtigt, sich beim Bäcker die jeweils in einer Woche zustehende Brotmenge aushändigen zu lassen. Einem Pfund Brot entsprachen dabei 350 Gramm Mehl. Dem Bäcker wie dem Brotkäufer war es strengstens verboten, Broteinheiten im Voraus herauszugeben.
Jede Abgabe wurde in ein bestimmtes Zeitfeld eingetragen oder wie im vorliegenden Falle in ein spezielles Entwertungsfeld gelocht. Dabei galt die auf der Karte eingedruckte Devise: Wer weniger Felder lochen lässt, als ihm zukommen, also mit dem Brot spart, dient dem Vaterlande! Ob das wohl oft vorgekommen ist? Die Bestimmungen waren insgesamt sehr restriktiv gefasst und auf jeder Karte aufgedruckt. Es heißt dort: Brot und Mehl darf nur entnommen werden gegen Lochung einerentsprechenden Zahl von Feldern.
Die uns vorliegende Brotkarte des Landsturmanns Wollenweber sagt uns auch aus, wer in Lennep das Brot an ihn ausgegeben hat. Es war der Bäcker Wilhelm Isenburg, der seinerzeit sein Geschäft im Haus Berliner Straße 18 hatte. Den Älteren von uns ist an dieser Stelle noch die spätere Bäckerei und Conditorei Kühnel in Erinnerung. Wilhelm Isenburg war verwandt mit dem Cafétier, der in der Wetterauer Straße (vor der Familie Grah) eine Konditorei mit Restauration und Weinhandel betrieb bzw. dem Verleger Hugo Isenburg in Chemnitz, der nebenbei über seine Vaterstadt Lennep und das Bergische Land Berichte verfasste und drucken ließ. Der Stempel Wilhelm Isenburg ist auf der Brotempfangskarte deutlich zu erkennen, er wurde jeweils am Montag für eine Woche gesetzt, in der der Landsturmmann sein Brot oder Mehl bei ihm bezog. Die Felder für die nicht in Anspruch zu nehmenden Wochen wurden übrigens amtlicherseits per Dienstsiegel der Stadt Lennep vorsorglich entwertet, damit niemand durch Fälschungen unberechtigterweise Brot ergattern konnte.
Der Mangel an grundlegenden Lebensmitteln stellte sich 1914 schon schnell ein, steigerte sich aber im Verlaufe des Krieges noch beträchtlich. Zunächst begegnete man der Situation in der Hoffnung eines schnellen Sieges noch mit Humor. So gab es z.B. Postkarten, die den knappen Zucker karikierten. Unter dem Titel Zuckerersatz sieht man einen Soldaten seine Dame küssen und dazu steht geschrieben: Man hat sich manches abgewöhnt in unserer heut´gen Zeit so auch den Zucker ist der Kuss doch auch voll Süßigkeit! Später, um 1918, wurde der Ton bitterer: Als Feldpostkarte erschien folgende Trauer-Anzeige aus Magerstadt mit schwarzem Rand: Allen Verwandten und Bekannten die wirklich schmerzliche Nachricht, dass heute Früh 7 Uhr unser unvergesslicher Laib Brot im Alter von kaum drei Tagen den Weg alles Irdischen gegangen ist. Wer die Vorzüglichkeit des Dahingeschiedenen kannte, wird unseren Schmerz zu würdigen wissen. Von Beileidsbesuchen wolle man bitte Abstand nehmen, dagegen bitten die Hinterbliebenen um Brotmarken: Hans und Anna Mehlnot, Fritz Schmalhans, Karl Wenigfleisch und Berta Ohnefett.
Brot- bzw. Lebensmittelkarten gab es übrigens nicht nur zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden sie in der Bundesrepublik Deutschland erst im Jahr 1950 abgeschafft, 1948 gab es z.B. Haushaltsausweise für Vollmilch. In der DDR wurden derartige Zuteilungs- oder Berechtigungsscheine bis Mai 1958 benutzt. Man findet sie auch gar nicht so häufig in privatem Besitz überliefert, da sie i.d.R. jeweils nach Gebrauch abgegeben werden mussten, um jeweils eine neue zu erhalten. Umso schöner also, wenn man eine heimatliche Brotkarte findet wie in unserem Fall. Nach dem Zweiten Weltkrieg übrigens war die Ernährungssituation in Lennep ausgesprochen katastrophal, es gab nichts zu beißen, wie man sagte, man fuhr über Land zum Kungeln, brachte eine Kopfkissenhülle voll Nudeln mit, briet sein Essen mit nächtlich schwarz gepresstem Rapsöl, das aus der Pfanne heraus in alle Richtungen explodierte, weswegen man die Küchenwände vorsichtshalber zusätzlich mit alten Zeitungen sicherte. Durch die Zimmer hingen Bindfäden, an denen Tabakblätter getrocknet wurden, fermentiert wurde der Tabak je nach der Erfindungsgabe des Herstellers.
Die Mütter konnten aufgrund der Unterernährung ihre Kleinkinder nicht stillen, der heute stattliche Schreiber dieser Zeilen (bei seinem Urgroßvater Albert nannte man dies: mit Embonpoint) überlebte nur durch die Zufuhr des damaligen Wundermittels Vigantol. Zwar irrte der oft sarkastische Chefarzt des Lenneper Krankenhauses an der Hackenberger Straße, als er hinwarf: der kommt nicht durch, aber die heutige Freude über die damalige Fehlprognose mag uns, gerade auch in der jetzigen Vorweihnachtszeit, auch Anlass zu der Erkenntnis geben, dass es uns trotz einer großen Wirtschaftskrise im Vergleich zu damals und vor allem im Vergleich zu vielen Weltregionen nicht schlecht geht.