Die Militärregierung (1945 kaum im Amt) ordnet eine Kleidersammlung an, zu der jeder nach seinem Vermögen beizutragen hat. Remscheid sollte 780 Jacken, 1.550 Hemden, 5.300 Männermäntel, 1.200 Hosen, 9.000 Decken, 550 Kopfkissen, 1.000 Kissenbezüge, 1.450 Bettlaken und 3.300 Handtücher aufbringen. Es wird erwartet, dass die ehemaligen Nazis bei der Abgabe mit gutem Beispiel vorangehen. So sollen alle ehemaligen Mitglieder der Partei verpflichtet werden, je ein Hemd und ein Paar Männersocken mehr abzugeben als die übrigen Mitbürger. Die »alten Kämpfer« sollen sich von einem Paar Stiefel trennen. Remscheid erfüllt die Erwartungen. Am 12. Juli kann der Oberbürgermeister für die Kleidersammlung einen vollen Erfolg melden. Zwei Tage später wird eine Waffenamnestie erlassen. Straffrei ausgehen soll, wer Waffen noch nicht abgeliefert hat, dies aber jetzt nachholt. Luftgewehre müssen nur angemeldet werden.
Am 29. Juli findet eine Straßensammlung für die überlebenden Insassen der Konzentrationslager statt. »Remscheider«, so ruft der Oberbürgermeister auf, »lasst euch von keiner Seite in den Schatten stellen.« Im Schatten stehen die Remscheider mit allen Deutschen des Jahres 1945 ohnehin. Ohne Nahrung, mit wenig Kleidung, mit wenig Hoffnung, oft ohne Obdach. Für vier Wochen gibt es 400 Gramm Fleisch, 250 Gramm Fett, 8000 Gramm Brot, 300 Gramm Nährmittel, 400 Gramm Zucker, 125 Gramm Kaffee-Ersatz, 8000 Gramm Kartoffeln, 500 Gramm Salz. Das sind die Rationen des sogenannten »Normalversorgungsberechtigten«. Schwer- und Schwerstarbeiter und Jugendliche erhalten etwas mehr.
Die ersten Regungen des Wirtschaftslebens sind vom Mangel gekennzeichnet. Zwar nimmt die Industrie- und Handelskammer Remscheid an der Schützenstraße unter ihrem Präsidenten Wolf und mit Hauptgeschäftsführer Dr. Ringel ihre Tätigkeit wieder auf, aber an Produktion in Remscheider Betrieben ist noch nicht zu denken. An allen Ecken und Enden fehlt es an Arbeitskräften und an Material. Namentlich im Baugewerbe wird der Mangel schmerzlich spürbar. Eine Wiedererrichtung des Zerstörten ist so einstweilen nicht zu erwarten. Verwaltung des Mangels heißt die Devise der Stunde. Unterbelegte Wohnungen werden erfasst. Der knappe Wohnraum soll gerechter verteilt werden. Wieder geht es den Nazis an den Kragen. In ihren Familien soll nicht jeder Person ein Raum zugestanden werden. Hier sollen sich zwei Menschen einen Raum teilen. Obdachlose, Ausgebombte, Flüchtlinge - sie rücken nun den in ihren Wohnungen Verbliebenen zu Leibe. Es wird eng in deutschen Behausungen.
Eng war es auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln, sofern sie schon wieder fuhren. Bei den Hamsterfahrten, die für die Hungernden zur lebensrettenden Leidenschaft wurden, standen und saßen die Menschen auf Wagendächern und Puffern, auch auf den Trittbrettern der alten Wagen. Dass es hierbei zu einer Vielzahl tödlicher Unfälle kam, ist leicht erklärlich. Denn die erschöpften Kräfte der Menschen erlaubten kein stundenlanges Verharren in solchen Zwangshaltungen. So stürzten viele, kraftlos geworden, in ihr Verderben.
Die Zahl der sogenannten Wirtschaftsverbrechen stieg ins Ungemessene. Immer häufiger las man von Gefängnisstrafen für verbotenen Tauschhandel, Schwarzhandel, für Schwarzbrennerei, Schwarzschlachten, für Übertretungen der Sperrstunde, für Diebstahl von alliiertem Eigentum. Rings um Remscheid wurden - Folge des Kohlenmangels - die Wälder abgeholzt, zuerst heimlich, in der Nacht, später am hellen Tag. Appelle, den lebenswichtigen Rohstoff, der für Wichtigeres gebraucht werde, zu schonen, fruchteten wenig. Fremdes Eigentum erfuhr nur kaum noch Achtung.
Es wäre jedoch falsch, wollte man in diesem Panorama des Jahres 1945 Partien übersehen, die nicht für Resignation, Not, Unrecht und Verzweiflung, sondern für Aufbau, Hoffnung, Fortsetzung guter Traditionen stehen. So findet am 5. August im »Gefolgschaftsraum« (die alte Terminologie hat sich noch nicht verflüchtigt, auch im Mitteilungsblatt liest man noch gelegentlich von »Volksgenossen«) der Firma Keiper in Hasten das erste Nachkriegskonzert des (verkleinerten) Städtischen Orchesters statt. »An Beifall war kein Mangel«, vermeldet das Mitteilungsblatt und auch, dass alle »Musikhungrigen«, die keinen Platz gefunden hatten, durch ein Wiederholungskonzert »entschädigt« werden sollen. Robert Vohwinkel hatte zum Stab gegriffen, denn der Städtische Musikdirektor Dr. Raabe war - wie viele Musiker - noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Das Programm: Die 2. Symphonie von Beethoven, Mozarts »Kleine Nachtmusik« und Haydns d-Moll-Symphonie »Die Uhr«. Über dieses Konzert berichtet die »Neue Rheinische Zeitung«, eines der ersten jener Lizenzblätter, die von nun an den Informationshunger der neuen Demokraten stillen sollten. Diesem Blatt gesellten sich bald die »Rheinische Post« als »Zeitung für christliche Kultur und Politik« und die »Freiheit«, das Blatt der Kommunisten zu.
Vor 4.500 Zuschauern fand im Stadion Reinshagen das erste Remscheider Turn- und Sportfest statt. Von den 28 Remscheider Vereinen hatten 18 gemeldet. Ein Fußballspiel zwischen einer Stadtelf und einer britischen Soldatenmannschaft endete 5:2 für die Engländer. Wichtiger aber als ein solches Ergebnis war der unmittelbare sportliche Kontakt mit der Besatzungsmacht, der Verschränkungen auflösen half.
Noch immer ist ein großer Teil der Anzeigenseiten mit Todesnachrichten von Kriegsopfern gefüllt. In den Schulen wird für Jungen und Mädchen eine Zwiebackmahlzeit verabreicht. Der Strom ist weiter rationiert. Der Tauschhandel beherrscht die Stunde. Es entstehen Tauschzentralen, wo Möbel und sonstige Gegenstände des täglichen Bedarfs in großen Mengen die Besitzer wechseln. (aus: Remscheid so wie es war 2, von Dr. Gerd Courts, erschienen im Droste Verlag, Düsseldorf, im Jahre 1978.)