Mein Vater war von Beruf Schneider. Später fing er einen Handel mit Textilien an. Damals wurden die Leute, die von Haus zu Haus verkauften, Hausierer genannt. Aber da war ein Unterschied. Der einfache Hausierer hatte ein Köfferchen, einen Pappkarton oder einen Rucksack für seine Ware. Mein Vater aber hatte einen Wachstuchbehälter mit Riemen dran. Da gab es den Standesunterschied: Wer so hausieren ging, der hatte feste Kundschaft. Auf den waren die anderen Hausierer dann sauer. Wenn mein Vater nun mehr Ware mit führte, nahm er auch einen Koffer, aber nicht so einen wie die einfachen Hausierer, die hatten einen aus Holz. Er musste sich schon einen besseren Koffer leisten. Mein Vater verkaufte Damenunterwäsche, Strümpfe, Socken und Krawatten. Und auf Bestellung natürlich auch Anzüge. Sein Geschäft lag aber auch darin, getragene Anzüge umzuarbeiten. Das ging folgendermaßen: Wenn ein Anzug mit durchgewebtem Muster schon mehrere Jahre getragen worden war, dann gaben die Leute ihn meinem Vater zum Wenden. Danach konnte er ,links' weitergetragen werden. Der Anzug wurde mit einem Rasiermesser bei uns zu Hause aufgetrennt. Meine Mutter und wir Blagen mussten dabei helfen. Dann kratzte meine Mutter die Nähte sauber. Danach wurden die einzelnen Teile gebügelt und von links - also was früher innen war, kam jetzt nach außen - wieder zusammengenäht. Das machte mein Vater, der dabei gleichzeitig notwendige Änderungen und Ausbesserungen vornahm. Die Leute waren immer begeistert, denn es sah ja so aus, als wenn sie sich einen neuen Anzug geleistet hätten." (M 1915) (aus: aber die Jahre waren bestimmt nicht einfach. Remscheider Zeitzeugen berichten aus Kindheit und Jugend. Von Gerd Selbach. Herausgegeben von der Volkshochschule der Stadt Remscheid 1985.)
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