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Channel: Waterbölles - Geschichte
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Zerborstene Scheibe verhalf Lehrer zu Zusatzeinkommen

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"Seit 1846 hatte ich die Schule besucht, und zwar zuerst bei dem Unterlehrer Pfaffenbach, der die kleinsten Kinder der Ungewitterschen Schule (in Lennep) zu unterrichten hatte. Diese unterste Klasse der evangelischen Volksschule war in dem katholischen Schulgebäude an der Mühlenstraße untergebracht worden, da die evangelische Schule überfüllt war. Vor dem Schuleingang an der westlichen Ecke des Gebäudes mündeten die beiden Arme des Lenneperbaches durch hölzerne Flößrinnen in das Wiesental. (…) Eines Morgens ging ich anstatt zur Schule zum Schützenfeld, um die Natur, die schöne Fernsicht und die volle Ungebundenheit zu genießen. Aber es war von vorneherein kein Genuss, von Logik hatte ich wohl noch nicht gehört; aber die von Natur zugeteilte logische Gedankenreihe führte schnell dazu zu erkennen, dass dieser Freiheitsausflug für mich bedenkliche Folgen haben musste. Es war wirklich richtig empfunden, der Lehrer hatte sich schon mit meiner Mutter verständigt, von beiden Seiten erfolgte die nötige Prügelstrafe, der sich bei meiner strengen Mutter noch die beliebte Kellereinsperrung anschloss, bis mich mein Vater befreite. (…)

Die damaligen Schulen können mit den heutigen gar nicht verglichen werden, sie waren überfüllt, von Anschauungsunterricht war keine Rede, und die Lehrer erhielten so wenig festes Gehalt, dass sie sich durch Privatstunden und Zuwendungen der Schüler bei festlichen Gelegenheiten und ihren Geburtstagen erhalten mussten. Es war selbstverständlich, dass die reichsten Geburtstagsspender vom Lehrer bevorzugt wurden. Das Privatstundenwesen war ein Unfug und ohne Nutzen für den Schüler, da der Lehrer weder Zeit noch Lust hatte, sich um die Menge der Privatschüler zu bekümmern. Um den Herrn Ungewitter für die Kinder zu interessieren, lud ihn meine Mutter jeden Mittwochnachmittag zum Kaffee ein. Es wurde dann sein Lieblingsessen, ein sogenannter Napfkuchen gebacken, und wir sahen neidvoll zu, wie derselbe von dem Herrn Lehrer vertilgt wurde; für uns blieb meistens nur ein schäbiger Rest übrig. Ich blieb zwei Jahre auf der Ungewitterschen Schule, weil meine Eltern glaubten, er wäre ein besserer Lehrer als Gemmer, der die zweite Schulklasse besorgte. Ich wurde dann zum Lehrer Kötter versetzt und konnte dort so gut fertig werden, dass ich in kurzer Zeit zum ersten Ordner avancierte.

Herr Kötter machte sich die Arbeit bequem, indem er die meisten Arbeiten seinen Ordnern überließ, die in jeder Bank den ersten Platz innehatten. Wenn er in die Schule trat, instruierte er die zwölf Ordner, ging auf sein Podium, schlug den Pultdeckel auf und frühstückte hinter demselben, er hatte im Pult immer Kognak und dergleichen vorrätig. Er verstand es meisterhaft, Geschäfte zu machen, nicht allein an Geburts- und Festtagen, an denen er die Schüler auf ihre Verpflichtungen ihm gegenüber gebührend aufmerksam machte, sondern auch bei besonderen Gelegenheiten.

Ich hatte einmal Birnen mit in die Schule gebracht und wurde von meinen Mitschülern bedrängt, ihnen etwas abzugeben. Da ich mich des Andrangs der Mitschüler nicht erwehren konnte, warf ich eine Birne zum Fenster hinaus. Aber der Wind war mir ungünstig, indem er gerade in dem Augenblick den Fensterflügel zuwarf, als meine Birne den Flug nach außen machte; infolgedessen flog die mit großer Kraft geworfene Birne durch die Fensterscheibe, und es entstand ein Loch, welches die Birnenform hatte, umgeben von Rissen nach allen Richtungen hin. In diesem Augenblick trat Kötter in das Schulzimmer und erkannte sofort die Gelegenheit, ein Geschäft zu machen. Er sagte mir, die Scheibe müsse von mir bezahlt werden, dann sagte zu allen Schülern: „Ihr könnt alle etwas mitbringen, damit die Kosten für den einen nicht zu groß werden!“ Am andern Morgen mussten die zwölf Ordner die mitgebrachten Gelder einsammeln und ihm ans Pult bringen. Die Wohlhabenden hatten meistens soviel gegeben, dass von jeder Spende eine Fensterscheibe bezahlt werden konnte. Es kam ein großer Haufen Geld zusammen, die Fensterscheibe wurde bezahlt, und der Herr Lehrer hat ein gutes Geschäft gemacht."(aus: „Albert Schmidt · Ein Leben in der Bergischen Kreisstadt Lennep“, herausgegeben von Wilhelm Richard Schmidt, Gießen und Frankfurt am Main im Jahre 2000)


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