"Die Remscheider Industrie hatte bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine stürmische Entwicklung genommen. Die Stadt selbst war auf über 40.000 Einwohner angewachsen. Sie zählte an die 4.000 Wohnhäuser, fast 40 öffentliche Gebäude. Architektonisch bot sie keineswegs das Bild einer Industriestadt. Schon eher fühlte man sich bei ihrem Besuch in eine Land- oder Kleinstadt versetzt, in der die gegen Wetterunbilden mit Schiefer beschlagenen Fachwerkhäuser - schwarzer Schiefer, weiße Fensterrahmen und grüne Fensterläden -vorherrschten. Zu einer Ansammlung von Mietskasernen war es nicht gekommen. Dafür fanden sich überall prächtige Rokokobauten als Hinterlassenschaft des 18. Jahrhunderts und hin und wieder - aber mehr wie Fremdkörper - massive Bauten der architekturgeschichtlich fragwürdigen Gründerjahre.
Remscheid verfügte über Attraktionen: Talsperre, Straßenbahn, Müngstener Brücke. In Remscheid lebten und arbeiteten so berühmte Leute wie die Mannesmanns und die Bökers. Höchste Zeit eigentlich, dass Majestät sich einmal aus Berlin herbemühten. Am 12. August 1899 war es soweit. Remscheid lebte, glaubt man der Remscheider Zeitung von damals (52. Jahrgang, Nr. 194), in bebender Erwartung: »Vieltausendstimmiger Jubel braust am heutigen Tage über die Höfe, durch die Täler unserer bergischen Heimath. Durchdrungen von dem Hochgefühl vaterländischer Begeisterung entbietet die Bevölkerung Remscheids und des ganzen Bergischen Landes Seiner Majestät dem Kaiser ihren ehrerbietigsten, herzlichen Willkommensgruß.«
In der Tat, kaisertreu waren sie, die alten Remscheider, und das, obwohl auch unter ihnen die Unzufriedenheit wuchs. Das Sozialistengesetz Bismarcks hatte das Anwachsen der Sozialdemokratie nicht verhindern können und war 1890 wieder außer Kraft gesetzt worden. Die schlechte Lage der arbeitenden Bevölkerung schürte das Missbehagen. Zehn bis zwölf Stunden lang musste täglich gearbeitet werden. Auch schulpflichtige Kinder waren eingespannt. Gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit gab es keine wirksamen Versicherungen. Die Armen waren auf private Wohltätigkeit angewiesen. Wer öffentlich unterstützt wurde, verlor das Wahlrecht. Die Feilenhauer, Schleifer und Schmiede führten heftige Arbeitskämpfe. Doch als Wilhelm II. seine schon einmal abgesagte Visite in Remscheid endlich machte, schmückten die Besuchten für ihn nicht nur ihre Stadt, nein, die Schmiede grüßten besonders: »Der Hammer ruht! Im Schmuck der grünen Reiser will alles feiern unsren lieben Kaiser«. - Auch am Zielpunkt der kaiserlichen Besichtigungsfahrt, in der Nähe des Schlosses Küppelstein, stand ein Triumphbogen. Voll Stolz demonstrieren Handwerker, dass sie mit tausend Pferdekräften bei der Arbeit waren, um diese Grußpforte zu errichten. (aus: Remscheid so wie es war, von Dr. Gerd Courts, erschienen 1974 im Droste Verlag.)
Es war die Zeit des Kaiserreiches, da stand der Kaiser ganz oben und man verehrte ihn. Des Kaisers Familie war da miteinbezogen; man kannte seine Kinder mit Namen. Alles das lernte man schon in der Schule, dort wurde auch der Nationalgedanke sehr gefördert. Aber zu Hause auch. - Während meiner Schulzeit gab es zwei besondere Feiertage: des Kaisers Geburtstag (27. Januar) und die Sedanfeier (2. September). Die Schlacht bei Sedan von 1870 wurde in den Schulen noch immer gefeiert. Da mussten wir singen 'Siegreich wollen wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapferer Held'.
Dieses Lied kriegten wir schon als Kinder beigebracht, und wir sangen es mit Begeisterung. Am Geburtstag des Kaisers wurden wir Kinder fein angezogen, mit dem besten Anzug oder Kleidchen. Wir bekamen eine schwarz-weiß-rote Schleife um, und so aufgeputzt ging es in die Schule, wo eine Stunde lang gefeiert wurde. Die Klassenzimmer waren schön bekränzt und das Bild des Kaisers mit Hex dekoriert. Unser Lehrer musste eine Kleinigkeit erzählen vom Kaiser und was das für ein guter Mensch sei. Dann sangen wir Kinder 'Der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnet in Berlin, und war es nicht so weit von hier, dann führ ich heut noch hin'. Und anschließend 'Heil Dir im Siegerkranz'. Danach konnten wir nach Hause gehen. Da waren wir glücklich, denn der Rest des Tages war schulfrei. Aus diesem Grund war der Kaiser für uns Schulkinder dann wirklich 'ein lieber Mann'."(aus:
aber die Jahre waren bestimmt nicht einfach. Remscheider Zeitzeugen berichten aus Kindheit und Jugend. Von Gerd Selbach. Herausgegeben von der Volkshochschule der Stadt Remscheid 1985.)