Remscheid erlebte in den 1950-er Jahren bewegte Zeiten - bewegte und bewegende Jahre. Die lähmende Starre nach dem alles mit sich reißenden Untergang des Regimes, des Reiches, einer ganzen Epoche begann sich zu lösen. Die Straßen, gesäumt von zerbombten, ausgeglühten Ruinen, waren frei geräumt von den Trümmerbergen. Erste bescheidene Neubauten, eingeschossig, mit materialsparenden flachen Dächern wurden errichtet - von den Bürgern begrüßt als Zeichen des Neubeginns, verstanden als Zeichen der Ermutigung. Es waren - längst vergessen - die Jahre der sehnsüchtig erwarteten Sonderzüge, die ausgemergelte Kriegsgefangene aus Russland zurück in ihre Heimat brachten, die Tage des glücklichen Wiedersehens und der neuen Tragödien, denen Borchert mit Draußen vor der Tür" Ausdruck gegeben hatte.
Schneller als der materielle Wiederaufbau, der das ganze Jahrzehnt prägte, begann die Erneuerung des kulturellen Lebens, die Wiederentdeckung jener internationalen Vielfalt, die von 1933 bis 1945 gnadenlos konsequent unterdrückt war. Jede Begegnung mit den Dramen von Thornton Wilder, Tennessee Williams, Jean Paul Sartre oder Jean Anouilh, Wolfgang Borchert und Carl Zuckmayer, gespielt auf Behelfsbühnen in zufällig erhalten gebliebenen Schulaulen, wurde zum Ereignis - erlebt mit einer Intensität, die sich 60 Jahre später kaum noch nachvollziehen lässt. Werner Bergengruens Lesung in der Evangelischen Kulturgemeinde, Vorträge im Remscheider Kunstverein - das alles fand eine später nie wieder erreichte Aufmerksamkeit - trotz oder gerade wegen aller Existenz- und Zukunftssorgen, trotz der unglaublichen Härte des täglichen Lebens unter oft primitivsten Bedingungen.
Der verheerende Luftangriff auf Remscheid mit der tödlichen Mischung von schweren Sprengbomben, Luftminen, Brandbomben und Phosphorkanistern hatte in der Nacht zum 31. Juli 1943 eine breite Schneise der Vernichtung durch das Stadtzentrum gezogen. Die westlichen Wohngebiete, zum Stadtpark hin und in den weit verstreuten Außenbezirken blieben ebenso wie die schönen historischen Stadtkerne von Lennep und Lüttringhausen zum großen Teil unversehrt.
Remscheid wurde vom Zweiten Weltkrieg dreifach getroffen. Das Zentrum der Stadt sank in Schutt und Asche. Die Bevölkerung zahlte einen ungeheuren Blutzoll - beim Luftangriff und auf den Schlachtfeldern. Und - das sollte sich vor allem noch viele Jahre nach der totalen Niederlage, die dem totalen Krieg folgte, zeigen - Remscheid verlor das weltumspannende Netz seiner Exportverbindungen, das ihm den Namen Seestadt auf dem Berge" eingetragen hatte. Nicht nur die Remscheider Werkzeugindustrie war in hohem Maße exportorientiert und musste nun erleben, wie die alten Beziehungen abgeschnitten waren. Mehr noch galt das für die großen Exporthäuser, die einst ihre Geschäfte über eigene Niederlassungen in Fernost und in Russland, in Lateinamerika und in Nordamerika betrieben hatten und nun in der Stunde Null neu beginnen - oder aufgeben mussten.
Es hat deshalb sehr lange gedauert, bis die Industrie wieder auf die Beine kam, obwohl sie früh, sehr früh begann, alte Verbindungen neu zu knüpfen, neue Geschäftsbeziehungen anzubahnen. Die Exportmessen in Hannover boten dazu hervorragende Möglichkeiten. Remscheid war dort außerordentlich stark vertreten. Und jeder Auftrag bedeutete ein Stück Zukunft. So mühsam wie der Wiederbeginn des industriellen Aufschwungs, so dauerhaft wie das bedrückend hohe Niveau der Arbeitslosigkeit in den frühen Nachkriegsjahren, so schwierig gestaltete sich auch der Wiederaufbau der Stadt. Dennoch: es waren auch und in immer stärkerem Maße die Jahre des Aufbruchs, des langsam wiederkehrenden Glaubens an die Zukunft, des neuen unternehmerischen Muts. In den 50er Jahren ist jeder neue Wohnblock, jede wiederhergestellte Hausruine, jedes neue Geschäftshaus an der Alleestraße oder am Markt ein Ereignis, aus dem die Bürger Kraft schöpfen für den nächsten Schritt. Neue Werkshallen entstehen, manche großen Projekte - sehr zum Ärger von Rat und Verwaltung - außerhalb der eigenen Stadtgrenzen. Standortpolitik wird zu einem neuen Begriff, dessen Inhalte mühsam erlernt werden müssen.
Noch bevor von der Normalisierung der Lebensumstände die Rede sein kann, versuchen die Menschen, die Grauen des Krieges zu vergessen, sich von ihren traumatischen Erlebnissen zu befreien. Die Remscheider Kirmes, schon immer ein klassenloses Volksfest, zieht schon 1950 wieder Besucher zu Tausenden an. Große Chorfeste der bergischen Männergesangvereine, mit denen Traditionen neu belebt werden, das Kreisturnfest, das Lenneps alte Kreisstadtfunktionen noch einmal für Tage lebendig werden lässt, das große Reit-, Spring- und Fahrturnier in Lennep, das sich zum großen Volksfest mit 15.000 Zuschauern entwickelt - es werden viele Feste gefeiert in dieser Zeit. Und nicht wenige wurzeln in Vorkriegstraditionen, von denen man sich erst sehr viel später lösen kann.
Kaum hat die Kleiderkarte" zum rationierten Bezug von Kleidungsstücken ausgedient, wird die Mode wieder zum Thema der Damenwelt. Modenschauen erfreuen sich lebhaften Zuspruchs. Jedes Modell wird gefeiert, so bieder und tragbar" es auch sein mag - sei es in den Räumen der wiedererstandenen Textilhäuser, sei es im Stadtpark, wo strahlender Sonnenschein und flotter Jazz für die richtige Stimmung sorgen. Der Warenhunger ist ungeheuer groß. Jedermann braucht neuen Hausrat, neue Möbel, neue Leuchten und Wohntextilien. Es ist die Zeit der Verbraucherausstellungen in großen Zelthallen, auf dem Schützenplatz in Remscheid, im Stadiongelände von Lennep, wo eine Landwirtschaftsausstellung vor allem die Menschen aus dem bäuerlich geprägten Umland anlockt. Motorroller, Kabinenroller mit berühmten Namen wie Messerschmitt, Heinkel und die BMW-Isetta, die berühmte Knutschkugel", sind die Fortbewegungsmittel auf den Kopfsteinpflasterstraßen der Stadt. Goggomobil und NSU-Prinz läuten zusammen mit Goliath aus Bremen und dem Volkswagen jene Welle der Motorisierung ein, deren künftige Dimensionen sich noch niemand vorstellen kann. Allenthalben schießen die Autohäuser aus dem Boden - und die Tankstellen mit ihren zeittypischen, kühn konstruierten dünnen Stahlbetondächern.
Mit dem Verkehr, der lange noch Züge der Beschaulichkeit zeigt, aber doch stetig und zum Ende des Jahrzehnts lawinenartig zunimmt, wachsen die Verkehrsprobleme. Die Behörden reagieren. An wichtigen Kreuzungen wie am Amtsgericht oder an der Ecke Nordstraße/Bismarckstraße/ Freiheitstraße, auch an der Trecknase in Lennep, werden Verkehrsampeln installiert. Eine verstärkte Verkehrsüberwachung setzt ein, und die Polizei beginnt, Schülerlotsen auszubilden - mit großem Erfolg, denn die Zahl der Verkehrsunfälle mit Kindern sinkt deutlich.
Die Erholung der Wirtschaft macht Mitte der 1950-er Jahre spür- und sichtbare Fortschritte. Ludwig Erhards Wirtschaftswunder", die Befreiung von der Plan- und Mangelwirtschaft, beginnt Wirkung zu zeigen. Beim Remscheider Arbeitsamt werden die Schlangen der Arbeitslosen immer kleiner. Die Remscheider entdecken ihre Reiselust wieder; die Reisebüros bekommen Konjunktur. Der Stadtkämmerer sieht das Gewerbesteueraufkommen wachsen. Immer mehr große Infrastrukturmaßnahmen können finanziert werden. So ist endlich Geld vorhanden, um ein neues Stadttheater an der damaligen Villenstraße, der heutigen Konrad-Adenauer-Straße, zu errichten, das im Herbst 1954 glanzvoll eröffnet wird. Die Städtische Badeanstalt an der Freiheitstraße wird größer und schöner als zuvor wieder aufgebaut. Schulen wie die große Daniel-Schürmann-Schule, Kindergärten, Freibäder wie das Sonnenbad am Lüttringhausener Hallenbad entstehen neu oder werden gründlich überholt. Das Röntgenmuseum in Lennep bekommt einen großen Anbau.
Aber auch gegen Ende der 1950-er Jahre ist der Wiederaufbau nicht abgeschlossen. Noch immer klaffen Lücken in der Bebauung. Noch immer steht der Wohnungsbau vor großen Aufgaben. Doch das Lebensgefühl der Bürger hat sich in diesen zehn Jahren ebenso gründlich gewandelt wie das Bild der Innenstadt, der Wirtschaft, der Kultur, der Freizeit. ( ) Rauchgeschwärzte Trümmer hinter rostigen Toren, der ausgeglühte Mauerstumpf des einst stolzen Rathausturms als Symbol der Zerstörung im Hintergrund -über weiten Teilen der Innenstadt (wie oben rechts im Bild an der Elberfelder Straße) liegt noch nach vielen Jahren ein Hauch der Trauer und Melancholie. Letztlich aber siegt in den 50er Jahren der Aufbauwille. (aus: Remscheid. Bewegte Zeiten Die 50er Jahre, von Alfred Lambeck (Text und Fotos), erschienen 1999 im Wartberg-Verlag)