Quantcast
Channel: Waterbölles - Geschichte
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2531

Die Haft als eine einzige eine lange, dunkle Nacht

$
0
0

In der Zeit vom 12. bis 17.11.1934 fand vor dem II. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm in Wuppertal der Prozess „Andreas Pflüger“ statt. Von den 62 Angeklagten waren zwölf Frauen. Die Gestapo hatte zunächst gegen 91 Angeklagte, darunter 22 Frauen, ermittelt. Emmi Leyendecker geborene Kubatz:
„Die Haft war für mich eine lange, dunkle Nacht!“ Mit 77 Jahren schrieb sie, die als junge Frau durch ihre Heirat nach Düsseldorf verzogen war, ihre Lebenserinnerungen auf. Sehr liebevoll beginnt sie über die Jahre ihrer Kindheit in Remscheid:

„Wenn ich die Augen schließe, sehe ich einen Hof – so nannte man ein Zusammenhocken von einigen Ein- und Zweifamilienhäusern mit Stall für eine Ziege und einige Hühner. Eine kleine Gastwirtschaft hielt den Hof zusammen. Die Lehmhäuschen waren weiß getüncht und mit schwarzgeteerten Längs- und Querbalken wie verziert. Kleine, grüne Schlagläden rahmten die Fenster ein, dann die übliche Regenwassertonne. Manchmal lag auch ein ausgedienter Schleifstein in einer Ecke - ein Spielzeug für viele Zwecke für uns Kinder. ‘Holz’ hieß die kleine Ansiedlung am äußersten Stadtrand von Remscheid-Hasten gelegen...."

Dies ist die erste Wohnung der Eltern nach ihrer Übersiedlung aus Ostdeutschland nach Remscheid. Der Vater will schnell zu Geld kommen und arbeitet in Tag- und Nachtschicht als Schmelzer in einem Stahlwerk. Der Mutter hat er einen Tabakladen gemietet, den sie neben Haushalt und Kindern versorgt. Emmi schickt der Vater zur Oberschule, aber nur vier Jahre, dann muss sie der Mutter im Tabakladen helfen. Berufsausbildung gibt es nicht. Inzwischen ist das Haus an der Ecke Freiheitstraße/Südstraße, in dem sich der Laden befindet, von der Familie Kubatz gekauft worden, und die Familie zieht um.

Im Tabakwarenladen bekommt Emmi Kubatz die erste Berührung mit der Arbeiterbewegung. Auf dem Ladentisch liegt sichtbar die ‘Arbeiterstimme’. Emmi Kubatz fragt sich in ihren Erinnerungen:

„Wann war das eigentlich - als mir die anderen Gedanken kamen, die über den Alltag hinweggingen, als mir bei allem Zweifel kamen, als alles Bisherige an Wert verlor, das Warum, das Woher und Wohin? Alles verlor seinen bisherigen Sinn. Ich versah meinen Ladendienst unverdrossen, jeden Tag fast dieselben Kunden. Morgens in der Frühe zogen sie an dem Laden vorbei - scharenweise - in die Fabrik. Trotteten, trabten eilig, eilig - eben schnell ein paar Zigaretten kaufen, eilig weiter, immer dieselben - Jahr für Jahr - hier und da flog auch mal ein Gruß, ein Witz von einer Straßenseite hinüber zur anderen. Manche trugen ihr Essen in einem zweiteiligen Emaille-Kessel - sie nannten ihn ‘Elberfeld und Barmen’ - in ein großes, buntgeblümtes Taschentuch gebunden, bei sich.

Ich hatte als Kunden viele ‘Prühmer’ 1. Es war Kautabak, ein in Rum und andere Zutaten getränkter, kurzer Tabakstrang. Meist waren es Schleifer, die bei ihrer Arbeit immer eine trockene Kehle hatten und deshalb priemten. Täglich kam ein alter Schleifer: ‘Mojen, diet Se mir en Keutabak, en decken.’ Er holte den Groschen mit seinen ‘abgeschliffenen’ restlichen schwarzen Fingernägeln aus einem zerfledderten Portemonnaie ohne Verschluss, was immer umständlich lange dauerte.

Im Winter, wenn die Arbeiter früh im Dunkeln zur Arbeit gingen und es war Glatteis, besonders gefährlich in dem bergigen Remscheid, lagen später vor dem Laden auf dem Bürgersteig Füßlinge von alten Männersocken, die sich Arbeiter über die Schuhe gezogen hatten, um etwas Halt auf den vereisten Steinen zu haben, sie aber leider oft verloren und im Dunkel nicht wiederfanden. So kamen sie Tag für Tag, Sommer und Winter, Jahr um Jahr, derselbe Trott, derselbe ‘Kostmüter’, wie sie ihr Esskesselchen auch nannten. Mit den Jahren wurde ihr eiliger Trott immer langsamer, der Rücken krümmte sich mehr und mehr - und eines Tages blieb einer von ihnen ganz weg, aus - vorbei - einer weniger im täglichen Trott. Ich machte mir Gedanken darüber, sie wirbelten durcheinander. Viele Möglichkeiten, welche von ihnen war anwendbar, um solchen Trott mit Leben zu füllen? (Ich zog Vergleiche - was ich dachte - entschied mein Herz - ich ließ mir Zeit.) Ich wusste nicht wohin mit meinen Erkenntnissen. Es war die Zeit, da entfernte ich mich innerlich von meinen Eltern. Sie wurden mir fremd.

Es begann eine bewegte Zeit. Streiks - Revolution - Streiks. Neue Gedanken bewegten die Menschen. Man sprach vom ‘Alten’, was hinter uns lag, und noch unsicher vom ‘Neuen’. In der Luft lag ein Knistern, nur dem Suchenden hörbar. Die Volkshochschule machte von sich reden. Ich begann die ‘Arbeiterstimme’, die auf dem Ladentisch lag, aufmerksamer zu lesen als bisher und fand mit der Zeit immer mehr Parallelen zu meinem inneren Suchen. Ich begriff vieles noch nicht, war aber wachsam geworden. Die Inflation begann erst langsam - als man begriff, ging es sehr schnell. Was war gestern? Was im Augenblick? Was würde morgen sein? Was war mit dem Geld los? Mit einem großen Waschkorb voller Geldscheine rannten meine Schwester und ich kurz vor Schalterschluss zur Post, um noch den jeweiligen Tageskurs des Geldes auf dem Einzahlschein gestempelt zu bekommen. Täglich - bis eine Mark gleich einer Billion war.N

"Die Haft als eine einzige eine lange, dunkle Nacht" vollständig lesen

Viewing all articles
Browse latest Browse all 2531