Teil II, Paul Legers: Die Remscheider Werkzeug- und Eisenindustrie von der Einführung der Gewerbefreiheit bis zum Ausbruch des Weltkriegs
10. Durch mannigfaltige Familien- und Wirtschaftsverflechtungen angeregt oder genötigt, suchte in den letzten Jahrzehnten auch der Fabrikant eigene Wege und zog selbst hinaus in andere Weltteile, um den Absatz seiner Erzeugnisse zu heben. Die Überproduktion spornt den Tatendrang an: Mein Feld ist die Welt!" Als die großen Bahnbauten in Russisch-Asien entstanden, reiste der Remscheider Unternehmer erst vereinzelt nach Sibirien, Transkaukasien oder an die persisch-indische Grenze auf Kamel, Saumtier, im Schlitten oder zu Fuß zu den Arbeitsplätzen der Ingenieure, um Aufträge zu sammeln. Andere folgten bald. Persönliche Beziehungen zum Kunden werden angeknüpft und sorgsam gepflegt. Anpassung an Einzelwünsche stärkt, das Warenzeichen schützt sie.
11. So müssen wir in der Vergangenheit den Mut des Bergischen Unternehmers ganz besonders bewundern, der sich tapfer, allen Verkehrsnöten und Widerständen zum Trotz, mit seiner Ware durchsetzt. Und dennoch! Dem aufmerksamen Beobachter können trotz aller Erfolge gewisse Schwächen in dem Aufstreben der Industrie nicht verborgen bleiben. Durch Aufhebung des Zunftwesens hatte die Napoleonische Gesetzgebung den Einzelmenschen auf wirtschaftlichem Gebiet von allen Bindungen und allem Zwang befreit. Dem in den Zunftschranken erstarrten Gewerbe fiel mit der Gewerbefreiheit plötzlich ein Geschenk zu, das besonders die Kaufleute stets herbeigesehnt hatten. Dass die Freiheit der Wirtschaft den Unternehmern aber zugleich eine große Verantwortung aufbürdete, kam ihnen in ihrer Allgemeinheit nicht zum Bewusstsein. In der Verkennung dieser Pflichten und ihren Auswirkungen liegt ein tragischer Zug der Entwicklung begründet.
In der Zunft war ein großer Teil der Unternehmer unter staatlicher Aufsicht zusammengeschlossen gewesen. Nach Aufhebung aller Bindungen freute man sich seiner Freiheit und baute später in dem Gefühl, dass der Staat mitwuchs und man als Glied eben dieses Staates dessen Schutz genoss, neue Unternehmungen auf, ohne dass andererseits allgemein ebenso klar eine Verpflichtung des Einzelnen gegenüber seinem eigenen Stand und diesem Staat oder das Gefühl einer Verantwortung erwacht und mitgewachsen wäre. Diese geistige Einstellung des Unternehmers ist nur verständlich, weil der Gedanke einer Organisation der Wirtschaft erloschen war und man vergaß, was er, verkörpert im Zunftwesen, geleistet und welchen Nöten er gesteuert hatte. Zudem kam die Einführung der Gewerbefreiheit, die Einräumung bisheriger Vorrechte Einzelner als Recht an alle ohne irgend eine Bindung oder Verpflichtung, der Eigenart des Bergischen besonders entgegen. Seit alters her übte der Meister" abseits vom Verkehr und umhegter Stadt in der Abgeschiedenheit der Berge und Täler seinen Beruf aus. Nun konnte Kaufmann und Meister" jeder werden, der das Zeug dazu in sich fühlte. Diese Einstellung hielt auch noch in einer Zeit vor, als anderswo längst organisierte Wirtschaftsgebilde mit ständig erstarkender Kraft entstanden, ja, als selbst die ganze Vorindustrie sich kartellierte und Produktions- wie Absatzformen grundlegende Wandlungen erfuhren.
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