von Max Eulenhöfer
Meine besondere Liebe gilt den alten Bildern vom Markt. Man fühlt förmlich, dass hier ein wesentliches Stück Stadtgeschichte abrollte. Nur sorgfältiges Studium der Arbeit unserer Heimatforscher versetzen einen „Hergeluopenen" in die Lage, sich ein klares Bild von der wirklichen Entwicklung dieses bedeutsamen Fleckens zu machen. Der Fronhof unterhalb der Kirche (später: Unterdorf) und das Oberdorf werden schon im 13. Jahrhundert genannt. Im 14. Jahrhundert ist das Dorf noch ein Hof unter Höfen, in dem aber bereits Wege von allen Seiten zusammenlaufen. Der Fronhof wurde vermutlich während des 30-jährigen Krieges aufgelöst und an Dorfbewohner verkauft. So vollzieht sich die Wandlung vom Fronhof zum Unterdorf.
Im 17. und 18. Jahrhundert muss im Oberdorf, der Gegend des heutigen Marktes, eine bedrängende Raumnot geherrscht haben, zumal sich die Gräber um die Kirche nach allen Seiten dehnten. Der Zugang zum Oberdorf, die heutige Bismarckstraße, war damals noch Friedhofsgelände. Der Weg von der Birgderkamper Seite zum Oberdorf führte bis an den Kirchhof und verlief dann links in die Kronenstraße (später Johanniterstraße). Raum zur weiteren Ansiedlung bot der Kegel genügend, aber die Hinzuziehenden drängten sich aus geschäftlichen Gründen in das schon überfüllte Oberdorf. Sogar die „Hesseninsel" war noch Gelände für einige Häuser, die erst im Jahre 1854 niedergelegt wurden. Die Bauweise zeigt deutlich den Eigensinn der Bürger. Jeder hatte seine private Fluchtlinie und wachte eifersüchtig darüber, dass ihm der Nachbar mit seinen Bauten und Geschaffen nicht in die Quere kam.
1755 verlieh der Kurfürst Karl Theodor den Remscheidern das Recht, allwöchentlich am Mittwoch einen Markt abzuhalten. Diese Einrichtung soll wesentlich zur Stadtwerdung beigetragen haben. Auf dem Markt hatten die Bauern der Umgebung Gelegenheit, ihre Produkte an den Mann zu bringen. Die Einrichtung muss aber nicht allseitigen Beifall gefunden haben. Jedenfalls war die Wittib (Witwe) Heuser darauf bedacht, dass vermeindliche Konkurrenten ihre gutgehende Gastwirtschaft nicht beeinträchtigten. Viele aus der heute lebenden Generation besinnen sich noch auf das Haus an der Kirche, das später Ferd. Flanhardt, Wiebel und Auweiler bewohnten (übrigens auch das Stammhaus der Buchhandlung Wilhelm Witzel). Hier wohnte zur Zeit der Marktgründung die Wittib Heuser und beherrschte wohl durch die Lage des Hauses „Kirche und Staat". Es war unzweifelhaft schwierig, ohne Aufenthalt „um die Ecke zu kommen", Wittib Heuser erhob jedenfalls Protest gegen die Errichtung von Verkaufsständen vor ihrer Nase. Ihre guten Beziehungen zur Obrigkeit waren aber doch wohl nicht weitreichend genug, die allgemeine Entwicklung aufzuhalten.
In dieser Zeit war weiterhin die Anlage eines Brandteiches oberhalb der Kirche ein Ereignis von Format. Allzu oft hatte das Feuer in regenarmen Zeiten unter den kleinen, leicht brennbaren Fachwerkhäusern aufgeräumt. „Endlich konnte dann im Jahre 1756 der Brandpfuhl, eine mit einer fünf Fuß hohen Mauer umgebene, überdachte Zisterne, auf dem unteren Teile des Marktes eingerichtet werden. In der Mauer befanden sich verschiedene Öffnungen mit anschließenden Treppenstufen, durch die das aus dem Abfluss der Regenrinnen gesammelte Wasser im Notfalle entnommen werden konnte" (W. Engels).
Verkehrssorgen gab es damals auch, und es war ein außerordentlicher Erfolg, als man endlich Anfang des 19. Jahrhunderts den alten Friedhof aufgeben und über ihn hinweg die heutige Bismarckstraße und damit eine direkte Verbindung vom Unter- zum Oberdorf schaffen konnte. Weiterhin ist es verständlich, dass man allmählich sternförmig vom Markt aus die benachbarten Straßen, Allee-, Elberfelder-, Blumenstraße erschloss. Im Jahre 1808, 53 Jahre nach der Eröffnung des ersten Marktes, wurde aus dem Dorf eine Stadt, wenn man auch heute immer noch von den Höfen „en et Dorp" geht. Das 19. Jahrhundert hat unserem Markt noch viele Gesichter gegeben, konnte ihm jedoch bis zum Ausgang des Jahrhunderts den dörflichen Charakter nicht nehmen. Wohl wird das Gedränge beängstigend. Die Marktstände rücken aufeinander, die Leute von den Höfen erkennen den Markt als Mittelpunkt an. Postkutschen lärmen dreispännig über die holprigen Katzenköpfe.
Jäh bricht dann im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Technik in das Idyll des alten Marktes ein. Unwiderruflich müssen die kleinen Fachwerkhäuser größeren weichen oder sich mit steinernen Fassaden neu einkleiden. Im Jahre 1890 platziert sich der erste Vorbote der werdenden Großstadt, Hochhaus Welter, an der Ecke der Allee- und Elberfelder Straße und verkündet hochmütig den bescheidenen „Fachwerkern", dass ihre Stunde nun endgültig geschlagen hat. Gaskandelaber flammen auf, und als vielbestaunter Fremdling dringt die elektrische Straßenbahn in das Idyll vergangener Zeiten. Wo wenige Jahrzehnte vorher noch die Tauben auf den Dächern girrten, wachsen drei- und vierstöckige Häuser regel- und stillos aus dem Boden. Die Betriebsamkeit des beginnenden 20. Jahrhundert drückt dem alten Markt einen neuen Stempel auf. Nur hier und da behauptet sich eigensinnig noch ein Veteran in der Reihe der Großen. Am Eingang der Elberfelder Straße stellt sich, im Bewusstsein seiner Tradition, das Stammhaus Arns allen in den Weg. Am Ausgang des Marktes, vor der Kirche, behauptet sich der zähe Geist der alten Wittib Heuser und hält den sogenannten „Engpass". Doch über das dritte Jahrzehnt hinaus können sich beide nicht mehr retten: 1929 beginnen Leiden und Freuden der historischen Marktregulierung.
Auf dem Markt selbst mehren sich die Schienen, Weichen und Oberleitungen. Mit der Geburtsstunde der Remscheider Straßenbahn 1893 wird der Markt von 1755 zu Grabe getragen und erfährt eine fröhliche Wiederauferstehung auf dem höchsten Gipfel des Holscheidsberges, auf dem heutigen Rathausplatz. Die historische Stätte des Wochenmarktes ist verloren. Dankbar aber erkennt man an, dass für das wachsende Marktleben ein zünftiger Platz gewonnen wurde. Was an der alten Stelle als Erinnerung übrigblieb, war lediglich der Name, nunmehr ohne sinnvolle Beziehung zu seinem eigentlichen Zweck. Darüber machte man sich an verantwortlicher Stelle des Stadtverordnetenkollegiums seine Sorgen. Lebhaften Ausdruck finden sie in einer Notiz unter den Stadtnachrichten des Remscheider General-Anzeigers vom 31. Mai 1893, worin es unter anderem heißt: „Seinen ursprünglichen Zweck als Verkaufsplatz hat der alte Marktplatz vollständig eingebüßt und ist dafür Zentralstelle der elektrischen Bahn geworden. Hoffentlich ist die Zeit nicht allzu fern, da in diesem Mittelpunkt des städtischen Verkehrs an die Stelle der Annoncenuhr ein Denkmal errichtet wird, nach welchem dann auch der Platz, da der Name Markt nicht mehr bezeichnend ist, benannt werden würde."(aus: „Remscheider Bilderbogen“ von Max Eulenhöfer aus dem Jahre 1950)