Über eine Entwicklung des Handwerks in Remscheid zu sprechen heißt, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Geschichte der Industrie zu wiederholen; denn all die Schmiede und Messermacher früherer Zeiten, Eisenverarbeiter zumal, empfanden sich genau so als Handwerker wie die Bäcker, Metzger, Schuhmacher und Schneider. So ließen sich beispielsweise die Kleinschmiede im 18. Jahrhundert in die Zeichenrolle des Cronenberger Handwerksgerichtes eintragen. Die Identität von handwerklichem Selbstverständnis und fast industrieller Produktion zerfiel mit der Heraufkunft des Maschinenzeitalters, und dies fand seinen Ausdruck in der Gründung rein handwerklicher Organisationen. 1900 entstanden die Handwerkskammern. Das hinderte nicht an einem Fortbestehen von Mischformen über längere Zeiten hinweg.
Handwerklicher Leistungswillen zeigte sich in Remscheid vielfältig. So dokumentieren beispielsweise Fotos von Hugo die Kochkunstausstellung von 1898 (Foto links). Damals war die Fotografie noch eine Mischung zwischen Weltwunder und Jahrmarktsattraktion. Sich »abnehmen« zu lassen war stets Staatsaktion, Stillhalten eine Voraussetzung, Sich-in-Positur-Setzen, -Stellen oder -Legen eine Selbstverständlichkeit. Für das Honoratiorenbild zur Ausstellungs-Eröffnung war keine Mühe zuviel, keine Albernheit verpönt. Einerseits voller Wichs mit Zylinder, Bibi, Pickelhaube oder Kreissäge, mit Kneifer, Cut und Uniform, mit Bart, Vatermörder und Zugstiefelchen, andererseits Jux mit Riesenpulle Schampus, Arm-um-die-Dame und Handauf- den-Freund. Für die Leistungsschau der Köche, Konditoren, des einschlägigen Fachhandels und des Hotel- und Gaststättengewerbes wurde die ehemalige Schützenhalle am damaligen Schützenplatz (Rathausplatz) hergerichtet. Sie gab einen Überblick über all das Gute, Süße, Leckere, von dem unsere Altvorderen glaubten, es würde das harte Leben erleichtern, und mancher arme Schlucker wird mit Neid hindurchgeschlichen sein. Auch "moderne Bäder" (Foto unten links) und Restaurants im Stil der Zeit waren eingerichtet.
Schon in der kurz nach der Jahrhundertwende errichteten Stadtparkhalle fand 1910 eine Fachausstellung statt, die zwei Septemberwochen lang »den fortschrittlichen Geist der Klempner-, Kupferschmiede- und Installateur-Innung« zeigen sollte. Die Schau hatte weit mehr als nur örtlichen Erfolg. Die Ausstellung sollte, folgt man einer Anzeige, »die vielen Neuerungen auf dem Gebiete des Beleuchtungs- und Installationswesens dem Publikum vor Augen führen«. Dann kam der Krieg und nach dem Krieg der Krach, der Streit zwischen klassenkämpfenden, sozialistisch organisierten Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Das Handwerk war um die Schaffung einer dritten Kraft bemüht, gründete 1919 den Reichsverband des Deutschen Handwerks, der alle Handwerksgruppen, -kammern, Fachverbände und Genossenschaften umfasste. In Remscheid kam es im selben Jahr zur Bildung eines Mittelstandskartells, zu dem sich die im Innungsausschuss vereinigten 17 Innungen und die im Einzelhandelsausschuss vertretenen Gewerbevereine zusammenschlossen.
Der Mittelstand versuchte auf diese Weise, sich gegen die in Remscheid mit seinen kommunistischen Regungen besonders starken Sozialisierungstendenzen zu wehren. Und dass in Remscheid das Handwerk auch politisch zu demonstrieren wusste, zeigte sich am 31. Juli 1921 (Fotos links und rechts), als es zu einem großen Bürgerfest kam.
In einem Festzug, der von sämtlichen Innungen und Vereinigungen mit Festwagen, den Handwerkern in Berufstracht, der Landwirtschaft, allen Sportvereinen, Gesangvereinen, Kriegervereinen und bürgerlichen Parteien gebildet wurde, bewegten sich Hunderte vom damaligen Rathausplatz durch die Hauptstraßen der Stadt nach Küppelstein, wo mehrere Festzelte die Teilnehmer aufnahmen. Es gab Konzerte mit Massenchören der Gesangvereine, sportliche Veranstaltungen, schließlich ein Feuerwerk. Der erste Geschäftsführer des Mittelstandskartells, Schuy, hielt eine flammende Rede, an deren Ende es eine Entschließung an die Adresse der Regierung »gegen die Gefahren von außen und die Selbstzerfleischung im Inneren« gab. Man hatte sich »zur vaterländischen Idee« bekannt, und dies in einem Jahr, das Remscheid wenige Monate zuvor noch in der Hand der »Roten«, der Kommunisten, gesehen hatte. Ein Handwerksfest als politische Demonstration, Remscheid hat es erlebt!
Auch der Einzelhandel hatte sich, wir erwähnten es, organisiert. Noch kannte man nicht die Vorläufer kommender Entwicklungen, das Kaufhaus, den Kettenladen, Supermärkte. Das Einzelhandelsgeschäft der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war identisch mit dem, was wir uns gewöhnt haben, »Tante-Emma-Laden« zu nennen, wenn wir das Ende einer Einzelhandelspielart beklagen. War es etwas Besonderes, sprachen die Remscheider vom Spezereigeschäft, war es ein Durchschnittsladen vom Wenkel, und wenn dieser Laden etwas unordentlich aussah, wohl auch vom Schmerwenkel. Vom Warenangebot unserer Tage war man damals meilenweit entfernt, von den Verpackungskünsten und von Selbstbedienung. Hinter der Theke regierte der Kaufmann, vor ihm die Gleichgewichtswaage und das Kästchen mit den geeichten Gewichten. In großen Schubfächern hinter ihm lagerte die Ware. An Nägeln hingen Tüten, in die er das Gewünschte abwog. Flüssiges wie Öl und Essig füllte er in mitgebrachte Flaschen, Bonbons zählte er einzeln aus großen Gläsern ab. Vor seiner Nase baumelten nicht selten Hosenträger von der Decke, in der Ecke stand ein Fass mit Salzheringen, auf der Theke vielleicht ein Kasten mit Burger Brezeln. Ein undefinierbarer Geruch hing im Raum, Hering kämpfte mit Kathreiners Kornkaffee, Schmierseife mit Sauerkraut, und Stühle für die Wartenden standen bereit, nicht selten zu einem Schwätzchen genutzt, das länger dauerte, als der Einkauf es eigentlich nötig gemacht hätte.
Und wenn da geredet wurde, dann ausschließlich - wie am Arbeitsplatz und an der festlichen Tafel - »Remscheder Platt«, jene Sprache, die Richard von den Steinen, Rektor in Vieringhausen, einst mit diesen Worten pries: »Mien Remscheder Platt, su bott on su hatt äs Iser on Stohl, Dir haul ech pohl. Du böß äs us Lütt, wie ji'edermann sütt, su fre'i on su woahr, on keäneg on kloar. Du feegs äs us Lout, van Fremden geschout, ut Timmelentopp merr fresch ömmen Kopp. Enn Brocke böß du, die brängt us em Nu üöwer Di'epen su wiet en derr Urveder Tiet. Wat sie hannt gesait, gedonn on gedait van der Wi'eg bös noam Graff, dat spi'egels du äff. Wenn dorenn ech kiek, dann senn ech te-gliek om Berg on em Dal ming Ahnen ohn Tahl. Die wenken mir fruoh, dröm haul ech se huoh on wear et nit satt: us Remscheder Platt.« (aus: Remscheid so wie es war, von Dr. Gerd Courts, erschienen 1974 im Droste Verlag.)